Vorzeichen und ihre politische Bewältigung in der Vormoderne

Vorzeichen und ihre politische Bewältigung in der Vormoderne

Organisatoren
Michael Grünbart, Historisches Kolleg München / Universität Münster
Ort
München
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
10.05.2023 - 12.05.2023
Von
Annegret Weil Helmbold, Institut für Byzantinistik und Neogräzistik, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Vorzeichen – plötzliche Ereignisse, die ihrer Kontingenz enthoben werden und von ihrem gesellschaftlichen Kontext eine Bedeutung zugesprochen bekommen – spielten in verschiedenen Zeiten und Gesellschaften eine wichtige Rolle. Angefangen mit Empfängnisomina bei Alexander dem Großen über mittelenglische Karten und jemenitische Omentafeln des 13. Jahrhunderts bis zur Reformationszeit in Schleswig-Holstein, führte die Tagung durch ein vor allem mediävistisch geprägtes, aber vielfältiges Programm, in dem die Funktionen von Vorzeichen im Umfeld von Machtzentren und ihre Bewertung thematisiert wurden. Dabei standen folgende Hinsichten im Vordergrund: Materialität, Zeitlichkeit, Strategien der Bewältigung und Wert der Vorzeichen. Der Bericht richtet sich nicht nach der tatsächlichen Reihenfolge der gehaltenen Vorträge, sondern folgt einer chronologisch-thematischen Ordnung.

KAI TRAMPEDACH (Heidelberg) arbeitete auf der Basis von Plutarch und Tertullian die Rolle von Vorzeichen für die Legendenbildung Alexanders des Großen heraus. Die nachträgliche Verbindung zwischen bestimmten Ereignissen und der Zeugung sowie Geburt Alexanders diente dazu, ihn der göttlichen Sphäre anzunähern und die Veranlagung seiner Sieghaftigkeit herauszustellen. Trampedach betonte, dass nicht alle Vorzeichen als vaticinia ex eventu verstanden werden müssen, sondern dass einige der „Legenden“ schon zu Lebzeiten Alexanders kursiert haben könnten. Auf die Frage nach seiner Selbstinszenierung, die laut Trampedach auf echtem Glauben an diese Vorzeichen beruht habe, wandte er sich explizit gegen den Begriff „Propaganda“ und bevorzugte die Termini „Selbstverständnis“ und „Selbstdarstellung“.

GEORG WEBER (Augsburg) stellte grundsätzliche Überlegungen zum Stellenwert von Träumen und Visionen in der Spätantike vor und analysierte anschließend Exempla verschiedener Kaiser samt ihrer oneirokritischen Perspektive. Träume standen demnach nicht für die Vergangenheit, sondern vermittelten Wissen über die Zukunft. Durch dieses konnten menschliche Entscheidungen beeinflusst werden, wenngleich das Schicksal unveränderlich blieb. Weber stellte die Alltagspräsenz der Traumerfahrung heraus, deren Deutung und Bewältigung „Traumbücher“ wissenschaftlich-normativ unterstützten und so ihre gesellschaftliche Verankerung belegten. Eine Besonderheit liege darin, dass verschiedene Deutungen des gleichen Symbols bzw. Traumzeichens nebeneinander standen und es keinen autoritativen Deutungsmaßstab gab. Als „privilegierte Träumer“ tauchten vermehrt Figuren wie Heilige oder Eremiten auf, auch kristallisierte sich eine Kategorisierung verschiedener Erfahrungsarten (Traum, Vision, Schau) heraus. Weber akzentuierte die notwendige Unterscheidung zwischen Medium und Deuter. Ab dem 4. Jahrhundert wurden private Divinationsformen zunehmend verboten, da die Kaiser den Monopolanspruch auf die Traumdeutung und andere prognostische Wissenschaften erhoben. Die abschließenden Gedanken zu Intentionen der Traumdeutung sowie Strategien der Bewältigung betonten einerseits die legimitätsfördernden Chancen, aber auch die Gefahren (z.B. Voraussagen über den Tod) von Träumen. Insgesamt waren Träume und ihre Deutungen eher herrschaftsstützend, es konnten jedoch auch kaiserkritische Formen auftreten (z.B. bei Julian oder Justinian).

Einen ebenfalls konkreten Bezug zur Herrschaftslegitimation stellte MICHAEL GRÜNBART (München/Münster) her. Ausgangspunkt seiner Frage war die Präsenz und Konjunktur von Zeichen am byzantinischen Kaiserhof, die als Mittel zur Erklärung von Kontingenzen und ihrer Bewältigung fungieren konnten. Der Vortragende legte seinen Fokus auf das Selbstverständnis und Selbstbild von Herrschern; konkret ging es darum, ob es für die Legitimation eine Notwendigkeit des Einschreibens von Vorzeichen und Prognosen in die eigene Herrschergeschichte gab. Anhand von historiographischen, hagiographischen und paränetischen Texten stellte Grünbart einerseits den Umgang von Herrschern mit Personen geistlichen Standes und ihren Nutzen heraus, andererseits diskutierte er genealogische „Schlüsselwörter“ (Wort- und Buchstabenspiele), die zur dynastischen Prognostik verwendet wurden. Als wichtiger Akteur wurde der Berater herausgestellt, der zwar seinem Adressaten, dem Herrscher, als Ressource zur Verfügung stand, jedoch nicht als „Experte“ am Hof Karriere machen konnte.

WOLFRAM BRANDES (Frankfurt am Main) widmete sich dem Begriff „Pseudoprophet“ und bot umfangreiche Reflexionen zur Begriffs- und Forschungsgeschichte. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war das Schlüsseldatum des 20. Juli 792. Die Niederlage Konstantins VI. gegen die Bulgaren bei Markellai wurde zurückgeführt auf den Rat des Pankratios, eines solchen Pseudopropheten, der dem Kaiser den Sieg vorhersagte, die Armee aber ins Unglück stürzte. Durch die Wahl dieses Begriffes, der aus dem christlichen Kontext stammt, wurde Ereignissen und ihrer Deutung eine apokalyptische Dimension gegeben.

KLAUS HERBERS (Erlangen) stellte anhand von vier Beispielen aus einigen Papstviten des „Liber pontificalis“ (Domnus, Schisma 844, Nikolaus I., Stephan V.) das Aufkommen verschiedener Vorzeichen, ihre Bewältigung, Bewertung und Einordnung dar. Vorzeichen waren im „Liber“ immer dann von Bedeutung, wenn es Krisen gab, die es zu meistern galt (etwa bei der Amtsnachfolge). Dies konnte sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft beziehen. Insgesamt stellte Herbers ab dem 8. Jahrhundert eine Zunahme der prognostischen Praktiken fest, die er auf byzantinischen Einfluss zurückführte. Im „Liber pontificalis“ ist auffällig, dass es keine normativen Deutungsmuster gab, sondern die Zeichen aus sich selbst heraus erklärt wurden.

CARINE VAN RHIJN (Utrecht) ging der Frage nach, inwiefern prognostische Texte im lateinischen Europa auf politischer Ebene nutzbar waren. Anhand dreier vorgestellter Texte („Lunare Danielis“, ein brontologischer Text aus Florenz, „Tabula Prenostica Salomonis“) erarbeitete sie drei Schlussfolgerungen. Erstens gab es im Allgemeinen im frühmittelalterlichen Westeuropa Wissen über Vorzeichen und ihre Bedeutung, allerdings trat dieses weniger im Zentrum politischer Macht in Erscheinung, sondern eher in alltäglichen Konstellationen. Zweitens nahm ab dem 8./9. Jahrhundert in Lateineuropa ein Interesse an Wissen und Literatur aus dem arabischen Raum zu (die „Tabula Prenostica Salomonis“ etwa ist eine direkte Übersetzung aus dem Arabischen); dabei wurden die Texte allerdings aus ihrem ursprünglichen Verwendungs- und Rezeptionskontext genommen. Drittens konnte die Machtpolitik in Lateineuropa erfolgreich ohne Prognostik auskommen.

Einen thematischen Anschluss an die normative Verschriftlichung von Deutungsmustern bot der Beitrag von PETRA SCHMIDL (Erlangen). Sie besprach einen jemenitischen Traktat aus dem 13. Jahrhundert („Kitāb at-Tabṣira fī ʿilm an-nuǧūm“), in dem Interpretationen für Fälle angeboten wurden, in denen „normale Dinge“ zu „unnormalen Zeiten“ passierten (beispielsweise, wenn ein Hahn „zur falschen Zeit“ kräht). Um die Verbindung dieser Ereignisse mit bestimmten astrologischen Konstellationen zu verdeutlichen, wurden die Inhalte durch Diagramme und Tabellen graphisch aufbereitet. Schmidls Analysekategorien waren Zeit, die Berechnung und Beobachtung der Ereignisse, die praktische Verwendung der Tabellen, die Vorhersage selbst und ihre Strukturierung in der Handschrift. Sie stellte Verbindungen zwischen dem vorliegenden Text und anderen Traktaten (z.B. die „Große Einführung“ von Abū Maʿšar) her und untersuchte die politischen Verflechtungen des Autors der „Tabṣira“. Anders als im lateinischen Westen war es in der vorgestellten Textkultur üblich, einzelne Texte als Teile eines größeren Kompendiums zu verstehen, wobei die eindeutige Zuordnung zu einem Autor weniger wichtig war. Die vorgestellte Prognosetechnik setze viel „still mitgedachtes Wissen“ über die Ereignisse voraus, dem ein spielerisch-abergläubisches Moment nicht abzusprechen sei.

Einer für die Tagung singulären Quellengattung widmeten sich DALE KEDWARDS (Reykjavik) und VICTORIA FLOOD (Birmingham), die die Beziehung zwischen Vorzeichen und ihrer geographischen Darstellung auf Karten aus dem englischen Raum untersuchten. Sie stellten Dokumente wie die „Hereford Mappa Mundi“ oder die Gough-Karte aus dem 13./14. Jahrhundert vor und gingen der Frage nach, inwiefern Prophezeiungen, die als Omina in Zusammenhang mit größer angelegten europäischen Narrativen zu sehen sind, in die kartographische Darstellungen einbezogen wurden. So ließ sich beispielsweise auf der „Hereford Mappa Mundi“ beobachten, wie durch die explizite Darstellung der Trojanischen Prophezeiung und des Landeplatzes von Brutus in Britannien die translatio imperii-Idee eine tiefe Verankerung fand. Die Vortragenden betonten, dass unterschieden werden müsse, ob die Karten selbst als Prophezeiungen Wirkung entfalteten (z.B. die Hereford-Karte) oder „nur“ als Träger prognostischer Inhalte fungierten (z.B. die Britannienkarte des Matthew Paris).

Eine anders perspektivierte methodische Herangehensweise verfolgte die Literaturwissenschaftlerin LEA BRAUN (Berlin), die die Alexanderromane des Pfaffen Lamprecht und des Rudolf von Ems vorstellte und die hier auftauchenden Vorzeichen und ihre Bewältigung auf der erzählerischen Mikro- und Makroebene verglich. Anhand der Beispiele der Figur des Nektanebus, des „Würmels aus dem Ei“ und des Pferdes Bukephalos analysierte sie den Umgang mit dem spätantiken Vorlagenstoff, die Rolle des Erzählers und die poetologische Dimension der Vorzeichen. Als Ergebnis wurde festgehalten, dass die mittelalterlichen Autoren stark in die Vorlagen eingriffen, um die Vorzeichen für ihre eigenen Interessen nutzbar zu machen. Die Vorzeichen markierten auf intradiegetischer Ebene die Exzeptionalität Alexanders, auf extradiegetischer Ebene die Exzeptionalität des Autors. Braun betonte die jeweils kritische Auseinandersetzung mit den spätantiken Vorlagen, etwa den Umgang mit der Publikumserwartung zu einem bekannten Stoff, aufgrund dessen bestimmte unproblematische Aspekte (z.B. das Pferd) beibehalten, andere (z.B. Philipps Vaterschaft) umgeformt oder weggelassen wurden.

Zurück bei der Geschichtswissenschaft, aber zeitlich im Spätmittelalter, stellte MANUEL KAMENZIN (Bochum) Friedrich „den Freidigen“ und Rudolf I. von Habsburg vor. Er verglich die in ihrem biographischen Kontext überlieferten Vorzeichen sowie ihre jeweilige Instrumentalisierung, um die Bedeutung der beiden Akteure herauszuarbeiten. Die in vornehmlich historiographischen Quellen auftretenden Zeichen folgten keinen festgelegten Deutungsschemata; sie waren kontextabhängig, ambivalent oder gar polyvalent. Die Erklärung der Zeichen geschah a posteriori. Als Fazit ließ sich festhalten, dass die Zeichen im Prinzip bei beiden Personen ähnlich eingesetzt wurden. Sie wurden entweder personenbezogen genutzt oder in einen göttlichen Heilsplan eingebunden. Feste Deutungsmuster oder -hierarchien waren jedoch nicht festzustellen.

Mit den chronologisch jüngsten Ereignissen beschäftigte sich CHRISTIAN HOFFARTH (Kiel). Methodisch nutzte der Historiker das Power/Interaction Model of Interpersonal Influence von Bertram H. Raven und John R. P. French, um Melchior Hoffmann in seiner Rolle als apokalyptischen Prediger und Hauptfigur der „Flensburger Disputation“ 1529 zu analysieren. Im Zentrum der Betrachtung standen seine Funktion als „Experte“ und die Mechanismen und Manipulationen, die er einsetzte, um Einfluss auf seine Mitmenschen auszuüben. Melchior war ein selbsternannter Fachmann, der aber durch sein Umfeld als solcher akzeptiert und anerkannt wurde. In seiner Analyse betrachtete Hoffarth die Personenkonstellationen, auf die seine Prophezeiungen trafen, und die Rolle, die sie bei Konflikten mit anderen (z.B. Marquard Schuldorp und Nikolaus von Amsdorf) spielten. So konnte Hoffarth das genannte Modell für sein Fallbeispiel fruchtbar anwenden, da sich die Dynamiken von Macht und Einfluss, Expertise, Identifikation und zu beeinflussende Akteure im Komplex der Flensburger Disputation und Melchior Hoffmann als Prediger wiederfinden ließen.

Die Konferenz hatte einen deutlichen geschichtswissenschaftlichen Schwerpunkt, wobei der Blick auf verschiedene Regionen (vornehmlich Europas), Zeitstellungen und Quellen gerichtet wurde. Größere Linien zwischen den Vorträgen können gezogen werden, die die Bedeutung von Zeichen und ihren Wert in westlichen und östlichen Gesellschaften von der Antike bis ins Spätmittelalter erkennen lassen. Ein wiederkehrendes Thema waren Versuche einer Normativierung sowie Ambiguitätsreduktion durch die schriftliche Fixierung von Deutungsmustern. Zeichen konnten immer für verschiedene Zwecke unmittelbar und im Nachhinein instrumentalisiert werden. Die Problematik der Ambiguität zeigte sich auch in dem Zusammenhang zwischen Zeichenwesen und Herrschaft: In dieser Konstellation vermochten sie legitimitätsfördernd, aber eben auch -mindernd zu wirken. Deutlich wurde jedoch, dass Vorzeichen nicht in allen vormodernen Gesellschaften allein eng mit politischem Agieren zu tun hatten, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Relevanz entfalten konnten. Im Laufe der Tagung tauchten regelmäßig die Begriffe „Akteur“, „Medium“, „Berater“, „Experte“ und „Pseudoprophet“ auf, die die Dimension der Vermittlung widerspiegeln. Weitere Gemeinsamkeiten lagen in den gedeuteten Ereignissen selbst, die zumeist auf der Beobachtung von Natur- oder Himmelserscheinungen, aber auch auf Eindrücken aus Träumen oder Visionen basierten. Ebenso musste die Ebene der Zeitlichkeit beachtet werden, die das Ereignis präzisierte und seine Bewertung beeinflusste. Die Gerichtetheit der Deutungen – (meistens) auf eine Einzelperson, die Gesellschaft, das Schicksal eines Reiches oder das Schicksal der gesamten Menschheit – stellte einen weiteren gemeinsamen Nenner der Beiträge dar. Die Deutung der Zeichen spiegelt schlussendlich gesellschaftliche und persönliche Strategien von Kontingenzbewältigung wider und damit auch den Wert, den Vorzeichen selbst und der Umgang mit ihnen haben konnte.

Konferenzübersicht:

Michael Grünbart (München/Münster): Begrüßung und Einführung

Kai Trampedach (Heidelberg): Frühe Vorzeichen der Göttlichkeit. Über die Zeugungs-, Empfängnis-und Geburtsomina Alexanders des Großen

Michael Grünbart (München/Münster): Signifikante Idoneität: Vorzeichen und dynastische Identität

Wolfram Brandes (Frankfurt am Main): Schriftlich fixierte Deutungen, politisches Handeln und das gesellschaftliche Bewusstsein

Gregor Weber (Augsburg): Träume und Visionen der spätantiken Kaiser als Vorzeichen. Situationen, Intentionen und Strategien des Umgangs

Carine van Rhijn (Utrecht): The King Will Die, Barbarians Will Arrive. Prognostics and Politics in the Early Medieval West

Victoria Flood (Birmingham) / Dale Kedwards (Reykjavik): Prophecy in Place: Reading Imperial Geographies, from Geoffrey of Monmouth to the Hereford Map

Lea Braun (Berlin): Schicksal und Wille. Zur Rolle von Vorausdeutungen für die Herrschaftskonzeption der mittelhochdeutschen Alexanderromane

Petra Schmidl (Erlangen): When the Cock Crows Untimely. Omen Tables in 13th Century Yemen and beyond

Klaus Herbers (Erlangen): Die Vorzeichen im Papstbuch (Liber pontificalis) und ihre Bewältigung und Bewertung

Manuel Kamenzin (Bochum): Vorzeichen, Prophetie und Politik in der spätmittelalterlichen Historiographie des römisch-deutschen Reichs

Christian Hoffarth (Kiel): Fürsten der Endzeit. Zur interpersonellen Funktion apokalyptischer Zeichen in der Radikalen Reformation

Abschlussdiskussion

Redaktion
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Region(en)
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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
Sprache des Berichts